Life on Mars? Wie das Unmögliche möglich ist.
Wenn man sich so ganz nüchtern fragt, wie das bitteschön überhaupt klappen kann, ein Baby zu bekommen, dass das geht, dass es wirklich ganz und gar und fertig aus einem herauskommt, darf man das in schwachen Momenten schon auch für gänzlich unmöglich halten. Oder für verrückt. Aber es geht! Es geht tatsächlich. Niemand weiß das besser als wir Hebammen, und es ist eine unserer heiligsten Aufgaben, die Frauen darin zu stärken, dass sie dieses Vertrauen in sich finden: Ich! Kann! Gebären!
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Ein wesentlicher Begleiter für diese übermenschliche Aufgabe ist das Oxytocin.
Oxytocin kommt während der Geburt dann ins Spiel, wenn die aktive Geburt begonnen hat, also etwa ab der zweiten Hälfte der Eröffnungsphase. Wörtlich übersetzt bedeutet es »schnelle Geburt«, die Oxytocin-Phase ist also die Phase der Geburt, nachdem die Latenzphase beendet ist und es nun ordentlich zur Sache geht. Es ist ein ganz zentrales Geburtshormon, das nicht nur dafür sorgt, dass deine Gebärmutter kontrahiert und kräftige Geburtswehen macht, es hat auch enorm wichtige psychoemotionale Wirkungen, die für dein Verhalten unter der Geburt und in der gesamten Stillzeit ungemein wichtig für sämtliche Bindungsaspekte sind.
Oxytocin wird verschiedentlich auch »Kuschelhormon« oder »Hormon der Liebe« genannt. In all diesen Kontexten, immer dann, wenn die Natur findet, dass dieses sinnvoll-arterhaltende Verhalten belohnt werden sollte, wird Oxytocin ausgeschüttet. Liebe fühlt sich gut an, auch biochemisch. Oxytocin macht Bindungsverhalten, und das ist ein zentrales Konzept menschlichen Miteinanders, der Fortpflanzung und der Fürsorge für unsere Babys. Im Experiment bewirkt es bei jungfräulichen Schafen Muttertierverhalten, Autisten können plötzlich menschliche Regungen in Gesichtern deuten und sozial interagieren.
Aus uns evolutionsverzärtelten Homo-sapiens-Frauen macht Oxytocin Löwinnen, die Kinder gebären können. Es hebt die Schmerzgrenze, macht uns mutig und versetzt uns in die Lage, alle die, unter modernen Aspekten »Zumutungen« zu nennenden Umstände einer Geburt anzunehmen und in diesen Momenten nicht einmal infrage zu stellen. Es versetzt uns in Gebärtrance, einen wirklich komplett anderen Zustand in irgendeiner Zwischenwelt. Ein psychedelisches Ereignis, das man allen Ernstes auch ziemlich abgefahren-toll finden kann.
Mit Oxytocin bis unter die Hutkante können wir ungebremst schamlos sein, alle Hemmungen über Bord kippen, Zugang zu den Welten zu bekommen, in denen wir komplett instinktgesteuert reagieren – und uns nicht stören lassen von unserem Intellekt, guter Kinderstube oder gar dem dünnen Firnis von »kultiviertem Verhalten«, der über allem liegt. Das Denken hört auf, du kannst dich gehen lassen, alles loslassen, auch dich selbst, und kannst dennoch darauf vertrauen, nicht verloren zu gehen, auch wenn es sich phasenweise so anfühlt, als würdest du den Boden unter den Füßen verlieren.
Ein wichtiger Punkt, den es im Innersten zu verstehen gilt: Frau kann Gebären nicht „machen“. Gebären geschieht uns tatsächlich. Auch wenn gesundes, kraftvolles Gebären von außen bisweilen wild und ungezähmt aussieht, ist wenig Aktionistisches daran. Weder kannst du besonders viel „falsch machen“ noch „richtig“. Es spielen während des Geburtsprozesses tatsächlich in erster Linie die Hebammenvokabeln „Zulassen“, „Loslassen“ und „Gehenlassen“ eine ganz zentrale Rolle. Diese Blickrichtung ist uns modernen Menschen unvertraut, regelrecht unheimlich. Es geht nämlich um so herausfordernde Dinge wie die oben beschriebene Abgabe von Kontrolle, und da wird es uns dann doch ein bisschen mulmig. Wir sind das einfach nicht gewohnt.
Deshalb hilft es, für dieses rückhaltlose Gehenlassen, mit allem, was dazugehört, eine offizielle Experten-Erlaubnis zu bekommen. Die kriegst du hier an dieser Stelle, von deiner Hebamme in deinem Geburtsvorbereitungskurs und dann im Kreißsaal noch ein weiteres Mal. Hebammen wissen, dass Gebären nur so geht. Deshalb reden wir so viel davon.
- Du kannst stöhnen, in Kopfkissen beißen, ins Badewasser pinkeln, laut jammern, Hände quetschen, schreien, Wimperntusche verschmieren lassen und über allem hoffentlich in Ekstase geraten. Bella figura geht anders, aber darum geht es genau ausnahmsweise eben nicht.
- Sorge dich noch nicht mal um das richtige Atmen, die richtigen Körperpositionen, die richtige Tonlage oder den passenden Vokal fürs Tönen. Das kommt alles von ganz allein – wenn du es lässt. Das ist kein Eso-Gespinne, das ist wirklich mein voller Ernst.
- Verlasse dich ein weiteres Mal darauf, dass dein Körper weiß, was er tut. Genau so, wie es dir vermutlich nicht in den Sinn kommt, dich in deinen Verdauungsprozess einzumischen, nachdem du gefrühstückt hast. Dein Körper weiß, wann er welche Magensäfte und Enzyme ausschüttet und wann welche Peristaltik in Gang gesetzt werden soll. Selbst, wenn du dich dann aufs Klo setzt, kämen die wenigsten auf die Idee, den „Geburtsprozess“ mit bestimmten Vorkehrungen oder gar Atemtechniken zu initiieren und zu begleiten. Weil es schlicht nicht notwendig ist. Dein Körper kann das ganz allein. Etwas vereinfacht gesagt, ist Gebären letztlich genau so eine Körperfunktion.
In diesem Zustand von Ekstase, auf dem Höhepunkt der Oxytocinwelle, mündet eine Geburt in den Fetus Ejection Reflex (dazu mehr demnächst mal in einem weiteren Blog-Artikel!).
Auch von den geburtshelfenden Personen, uns Hebammen und den Ärzten, ist Geduld, Zeit und Ruhe gefragt, also ebenfalls eine eher passivische Haltung, weil dieser Prozess von Sich-gehen-Lassen eben enorm störanfällig ist – und diese Art von entrückten Zuständen üblicherweise nicht halb-öffentlich stattfinden. Was ja nicht bedeutet, dass wir nichts »machen«, nur dies eben auch nicht vordringlich im handelnden, aktionistischen Sinn. Im besten Fall schaffen wir den Raum, dass eine Frau sich so gehen lassen kann, und machen uns sozusagen unsichtbar.
In diesem oxytocingeschwängerten, rauschhaften Zustand nimmst du dein Baby in Empfang. Berührst es das erste Mal, so kann man sich nur verlieben! Der ungestörte Hautkontakt hält weiterhin die Oxytocinkaskade in Gang, was super ist für alles, was mit Bindung oder neudeutsch Bonding zu tun hat.
Auch synthetisches Oxytocin, Bestandteil des Wehentropfes, wurde bereits auf seine Wirkung im Vergleich zu natürlichem Oxytocin untersucht. Tatsache ist, dass eine routinehafte oder kritiklose Gabe, wie es mancherorts gehandhabt wird, einen Eingriff in ein fragiles hormonelles Geschehen darstellt, der bislang noch nicht hinreichend in seinen Konsequenzen untersucht ist. Tatsache ist, dass die mütterliche Hormonsituation natürlich auch für das Baby relevant ist, es gibt Hypothesen, dass sie eine starke epigentische Wirkung auf die Stresstoleranz und Bindungsfähigkeit in späteren Lebensjahren haben kann. Sowohl »gar kein Oxytocin« – etwa bei einem Kaiserschnitt – als auch »sehr viel (künstliches) Oxytocin« – etwa bei der Gabe über einen Wehentropf, fast immer notwendig bei einer PDA – scheint auf bisher nicht ganz vollständig geklärte Weise das Bindungsverhalten von Müttern und Babys zu beeinflussen, was man an der Dauer des Im-Arm-Haltens in den ersten Lebenstagen, an der Stilldauer über die nächsten Monate, aber auch an Parametern wie etwa der Häufigkeit von Wochenbettdepressionen ablesen kann.
Dieser Auszug entstammt zum Teil meinem Buch “Guter Hoffnung – Hebammenwissen für Mama und Baby”, das am 4.9.2017 im Kösel-Verlag erschienen ist.
Buchtipp: Michel Odent, Geburt und Stillen – Über die Natur elementarer Erfahrungen, C.H. Beck Verlag, 5. Auflage 2016.
Auch auf youtube gibt es viele tolle Videos von Michel Odents Vorträgen. Sehr berührend und toll, um inspiriert in die Geburt zu gehen.