Vitalstoffe in der Schwangerschaft: Folsäure

In der Schwangerschaft ist der Bedarf an fast allen Mikronährstoffen erhöht, klar, Dein Körper ist ja nun in höchstem Maße bio-aktiv: Ein vollständiger kleiner Mensch entsteht aus dir heraus, sich das immer wieder vorzustellen ist so wundersam und verrückt und eben auch perfekt.

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Der Folsäure, einem Vitamin aus der Vitamin-B-Gruppe, kommt in der frühen Schwangerschaft eine besondere Wichtigkeit zu, und es gehört zu den Vitalstoffen, die auf der Zeitschiene mit als erstes auf den Plan treten, wenn es um die Schwangerschaft geht, genau genommen nämlich schon davor, aber dazu gleich mehr.

In den ersten Tagen einer Schwangerschaft geschieht ganz viel Grundlegendes. Aus dem schnellsten Spermium der Welt und Deiner Eizelle wird die erste Körperzelle Deines Babys. Und aus dieser einen einzigen Körperzelle wird im rasanten Tempo ein biologisches Wunderwerk. Schon in den ersten 20 Tagen differenzieren sich die Zellen, aus denen später das Nervensystem und das Gehirn, der Magen-Darm-Trakt und das Herz-Kreislauf-System entstehen. Also alles Prozesse, die schon im Verborgenen ablaufen, bevor Du überhaupt weißt, dass Du schwanger bist.

Vor allem die Umstülpungen des Neuralrohrs, in dem später unter anderem das Rückenmark verläuft, verlangt höchste biologische Aufmerksamkeit.

Wenn sich dieses Neuralrohr nicht ganz genau richtig und vollständig umkrempelt, kann es zu Defekten und Fehlbildungen in diesem Bereich kommen.

Die Anenzephalie – eine schwere Gehirnfehlbildung – oder Spina bifida (»offener Rücken«), aber auch andere Spaltbildungen (am bekanntesten sind die Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten) gehören in dieses Feld.

Bei einer Unterversorgung mit Folsäure ist das Risiko für diese Defekte erhöht. Der Verschluss des Neuralrohrs bildet sich zwischen dem 22. und 28. Tag der Schwangerschaft, rechnerisch bist du zu diesem Zeit- punkt in der 5. SSW.

Wenn du das erste Mal in der 6./7. SSW zum Frauenarzt gehst, dieser dir die frohe Kunde überbringt und bestätigt, dass du schwanger bist, und du diese Gewissheit erst mal sacken lässt, ist dieser Teil in der Babyentwicklung also längst, still und heimlich, gelaufen. Üblicherweise bekommst du nun erst den Hinweis, deine Folsäurezufuhr zu ergänzen. Und damit eigentlich: zu spät.

Eine ausreichende Versorgung mit Folsäure ist also vor der Schwangerschaft und in den ersten Tagen relevant.

Man weiß heute, dass eine Substitution von Folsäure in den acht Wochen vor und nach der Konzeption das Auftreten von Neuralrohrdefekten tatsächlich um bis zu 80 Prozent verringert, auch die Rate an Fehlgeburten sinkt.

Grundsätzlich ist es unter wissenschaftlichen Aspekten – vorsichtig formuliert – eine etwas unscharfe Empfehlung, „der Mensch“ (das Schulkind, der Opa, die Schwangere) benötige 400 μg (präkonzeptionell werden 800 μg empfohlen) Folsäure. Die Körperzelle braucht keine tägliche Gabe – über die Nahrung oder als Vitamintablette – von Vitalstoff x oder y, sie benötigt, vereinfacht gesagt, einen bestimmten Blutspiegel. Wenn der – zum Beispiel wegen reichhaltiger Zufuhr durch die Nahrung und eines außerordentlich fein abgestimmten Vorzeigestoffwechsels – im hochnormalen Bereich liegt, bräuchte diese Schwangere überhaupt keine Folsäure zu substituieren.

Aber es gibt ein paar Haken an der Sache.

Die meisten Menschen neigen dazu, die Qualität ihrer Ernährung zu überschätzen. Das trifft auf alle Bevölkerungsgruppen zu. Also sowohl auf Menschen, die sich hauptsächlich von Junkfood ernähren. Dazu zähle ich, und da geht es schon los mit der Selbstwahrnehmung – ernährungsphysiologisch betrachtet ist das so, sorry – auch herkömmliches Fertigmüsli (etwa beim Zuckergehalt), „normale“ Milchprodukte wie Supermarkt-Erdbeerjoghurt und das Weißmehlbrötchen mit Marmelade.

Auch bei Menschen, die in ihren Instagram-Feeds behaupten, eine Acai-Chia-Bowl mit grünem Smoothie sei das normalste Frühstück der Welt. Die wenigsten nämlich essen täglich und regelmäßig so, sondern feiern sich regelmäßig für ihre Ausnahmen. Zu dieser Sorte gehöre ich zum Beispiel (weitgehend ohne Foodporn allerdings).

Ein erhellender Moment dürfte das retrospektive Protokollieren Deiner Mahlzeiten sein. Schreibe Dir detailliert auf, was Du in den letzten drei (besser fünf) Tagen gegessen und getrunken hast. Mit allen Zwischenmahlzeiten und Fernsehsnacks. Und werde demütig.

Ungefähr so macht es das Max Rubner-Bundesforschungsinstitut MRI im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz regelmäßig: Es erhebt im Rahmen der so genannten Nationalen Verzehrstudie die Daten von 20.000 Menschen (inklusive ihrer Daten zum Ernährungswissen, Einkaufsverhalten, den Kochfertigkeiten, Details über den Verzehr von z. B. angereicherten Lebensmitteln, Bio-Lebensmitteln oder speziellen Sportlerprodukten, körperliche Daten wie Körpergröße und -gewicht sowie deren körperliche Aktivität und weitere Lebensstilfaktoren).

Und da kommt dann halbwegs Objektives und Erhellendes bei raus. Im Falle der Folsäure nämlich: 86 % der Frauen unterschreiten die Empfehlung für die Folsäure-Aufnahme. Und starten demnach bereits unterversorgt in eine Schwangerschaft hinein.

Darüber hinaus, auch das ist wenig bekannt: Immerhin etwa jede zweite bis dritte Schwangere kann wegen eines genetischen Enzymdefektes (MTHSR-Mutation) Folsäure je nach Ausprägungsform nicht oder nur unzureichend in die aktive Transport- und Speicherform umwandeln.

Diese Frauen (Du wirst nicht wissen, ob Du zu ihnen gehörst) benötigen, wenn sie Folsäure substituieren, ein Folsäurepräparat mit hoher Bioverfügbarkeit. Sie sollten das bioaktive 5-MethylTHF – entweder so oder als Metafolin® deklariert – nehmen.

Schau einmal auf deinen Beipackzettel, welches Folat genau in deinem Präparat drin ist. In vielen Folsäurepräparaten ist diese aktive – und auch teurere – Form nicht enthalten (zum Beispiel in Folio®).

Ein Beispiel (eines von mehreren) für ein konkretes Präparat wäre dieses hier. (Dieser Link ist weder eine Kooperation noch ein affiliate link.)

Natürlich kannst Du Deinen Folsäurebedarf auch über die Nahrung zu Dir nehmen, indem Du Deinen Speisezettel piepst. Oben auf dem Bild ist Grünkohl zu sehen, solltest Du also zu den Menschen gehören, die (ähem: regelmäßig) einen Male-Smoothie zu sich nehmen: Herzlichen Glückwunsch. Auch alle anderen grünen Kohlsorten und anderes Blattgemüse ist reich an Folsäure, jeweils ungefähr (nochmal: täglich) 500 g (!) davon reichen aus für den Tagesbedarf. Oder auch 400 g (!) Haferflocken.

Aber: Ein mieser Folsäurespiegel lässt sich nicht in ein paar Tagen korrigieren, es braucht Wochen dafür, manchmal sogar Monate.

Es ist also sinnvoll, Folsäure bereits vor der Schwangerschaft zu nehmen, um gut versorgt in diese wichtigen ersten Tage der Schwangerschaft zu starten, weil, noch mal, in dieser Phase ist sie wichtig. Viele Frauen setzen zudem nach jahrelanger Einnahme beim aufkeimenden Kinderwunsch die Pille ab, auch sie ist bekanntermaßen ein Vitamin-B-Räuber. In der Praxis sieht das leider ein bisschen anders aus, laut einer Befragung von Frauenärzten im Jahr 2010 empfehlen das ihren Frauen genau nur 36 %.

Vermutlich liest du das alles nun jenseits der 8. SSW und kannst letztlich einen Großteil davon (zumindest für diese Schwangerschaft) gleich wieder vergessen, auch die gezielte Einnahme eines Folsäure-Monopräparates – die brauchst du jetzt nicht mehr. Ausgeprägte Neuralrohrdefekte kann man im frühen Ultraschall sehen, und sie sind trotz allem sehr selten, sorge Dich also nicht allzu sehr über dieses neue Wissen.

Der Grund, warum man das so macht: Es ist einfach. Schema F kann man gut und schlicht – und damit zeitsparend – kommunizieren, und es ist billig. Außerdem erreicht es die meisten, sagen wir: 95 Prozent oder 98. Denn zudem sind, noch mal, die oben beschrieben Fehlbildungen im Neuralrohrbereich glücklicherweise auch trotz allem sehr selten. Das reicht uns und belastet nicht über Gebühr die Sozialsysteme. Wem das zu wenig ist, der kann den individuellen Weg gehen. Man kann Blutwerte, die zeigen, ob überhaupt ein Defizit besteht, auch einfach messen. Beim Eisenwert, ebenfalls ein kritischer Wert in der Schwangerschaft, da hier Dein Bedarf um satte 100 % steigt, wird das in der Schwangerschaft regelmäßig gemacht. Hier wird eben auch nicht etwa »Pi mal Daumen« dosiert.

Bezogen auf die Versorgung mit Folsäure und weiteren B-Vitaminen gibt es einen Blutwert, der verhältnis- mäßig aussagekräftig ist: das Homocystein. Er ist ein Parameter dafür, wie gut Dein Körper mit enzymatischen Prozessen umgeht, die einen hohen Bedarf an B-Vitaminen haben. Ist er hoch, fehlt (aus welchen Gründen auch immer) sehr wahrscheinlich Folsäure und weitere aus der Gruppe der B-Vitamine. Das könnte dann interessant sein, wenn Du aus bestimmten Gründen in eine Risikogruppe fällst: Etwa schwierig schwanger geworden bist, bereits mehrere Fehlgeburten hinter Dir hast oder eine Präeklampsie “irgendwie ein Thema ist”, in der Vergangenheit war oder Du bereits eine Frühgeburt erlebt hast.

Mehr dazu (und was das Homocystein im Körper noch so Ungünstiges anstellen kann) findest Du ausführlicherer in meinem Buch oder sicher auch demnächst mal hier in einem Extrakapitel zum Homocystein.